Professionelle Zusammenarbeit beim Unterrichten blinder und sehbehinderter Kinder
Eine Veranstaltung vom BEBSK e.V. in Kooperation mit dem DBSV und der Johann-August-Zeune-Schule
Es gibt Stimmen in der Öffentlichkeit die sagen, Inklusion wird scheitern, weil wir das Anders sein nicht annehmen können. Und es gibt die, die sagen, ja, aber... Sicher ist, ohne inklusive Bildung wird es keine inklusive Gesellschaft geben. Inklusive Pädagogik darf kein starres Konzept sein, es geht nicht um Gleichmacherei, sondern darum die Unterschiede zu sehen, anzuerkennen und vor allem wertzuschätzen. Dann klappt der Rest NICHT von allein, aber dann ist vielleicht genug Mut und Kraft da, diese augenscheinlich größte Herausforderung der Bildungspolitik anzunehmen.
Aus diesem Grund sprachen wir am 12. Mai 2017 mit Vertretern aus Politik, Selbsthilfe und Bildungseinrichtungen über das Thema „Beschulungsmöglichkeiten blinder und sehbehinderter Kinder in Berlin und Brandenburg“. Mit dem Ziel sich anzunähern, Erreichtes aufzuzeigen, Probleme und Kritikpunkte offen darzustellen und Lösungsschritte zu entwickeln.
Wir betrachteten das Thema in Bezug auf zwei Bereiche:
Die Rahmenbedingungen – Dinge, die in den Rahmenrichtlinien und Gesetzen verankert sind bzw. verankert sein könnten wie beispielsweise Ambulanzstunden, Hilfsmittel, Schulhelfer oder Fahrdienste.
Die Haltung – Nicht nur Pädagogen, jeder Einzelne darf und sollte seine Wertvorstellungen und Normalitätskonstruktionen sowie seine Haltung hinterfragen.
Als Gesprächspartner auf dem Podium saßen Mario Dobe (Projektleiter Inklusion in der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft, Berlin), Jürgen Dusel (Behindertenbeauftragter Land Brandenburg), Joachim Haar (Geschäftsführer BSVB – Blinden und Sehbehindertertenverband Brandenburg), Thomas Schumacher (Schulleiter Johann-August-Zeune-Schule, Berlin), Fred Oelschläger (Schulleiter Brandenburgische Schule für Blinde und Sehbehinderte, Königswusterhausen) und Juliane Krüger (stellvertretende Schulleiterin Johann-August-Zeune-Schule, Berlin).
Als Einstieg in das Thema gab es für die rund 70 Gäste vier Kurzreferate.
Es wurde über den Entwicklungsstand der inklusiven Schulen in Berlin und Brandenburg gesprochen. Danach gibt es in Berlin für sehbehinderte Lernende wöchentlich 3 Förderstunden, für blinde und stark seheingeschränkte Kinder gibt es 8 Stunden. Diese gehören der jeweiligen Schule und sie kann entscheiden, ob sie damit Einzelförderung für das Kind organisiert, zeitweise 2 Lehrkräfte in die Klassen schickt, die Beratung einer ausgebildeten Blinden- und Sehbehindertenpädagogin anfordert, die Schülerzahl pro Klasse senkt oder einfach den Vertretungsplan aufpäppelt. Wie viele der Förderstunden beim Kind ankommen, kann nicht garantiert werden. Noch komplizierter ist es in Privatschulen. Sie werden vom Land Berlin pauschal gefördert und die Unterstützung behinderter Schüler ist schon mitgerechnet. Aus diesem Budget müssten sich Privatschulen nun blindenpädagogisches Know-How einkaufen, können dazu aber nicht gezwungen werden. Gleiches gilt für die Nachmittagsbetreuung im Hort.
Die mobilen Dienste der Johann-August-Zeune-Schule unterstützen SchülerInnen berlinweit an allgemeinen Schulen. Herr Schumacher beobachtet kritisch, dass diese Hilfen teilweise nicht bei den betroffenen Kindern ankommen. Gleichzeitig reicht das Personal nicht aus, um alle blinden und sehbehinderten Kinder in Berlin mobil zu versorgen. Das Land Berlin hat sich dafür entschieden inklusive Schwerpunktschulen aufzubauen, so auch zwei für den Schwerpunkt „Sehen“. Hinzu kommen zwei Schulpsychologische und inklusionspädagogische Beratungs- und Unterstützungszentren (SIBUZ). Als Vertreter einer Schwerpunktschule stellten Insa Jürgens und Petra Gossler (Charlotte-Salomon-Schule) ein positives Beispiel gut funktionierender Inklusion vor.
In Brandenburg sind 3 Wochenstunden sonderpädagogische Förderung für sehbehinderte Lernende vorgesehen und 7 Stunden für blinde SchülerInnen. Die lokalen Schulen haben die Verantwortung, mit den eigenen sonderpädagogischen Fachkräften eine fachgerechte Bildung zu gewährleisten. Eine Entsendung von Sonderpädagogen mit dem Förderschwerpunkt „Sehen“ durch die Brandenburgische Schule für Blinde und Sehbehinderte ist nicht zulässig. Die Schule steht den Regelschulen in ihrem Umkreis beratend zur Verfügung. Eine flächendeckende Gewährleistung der Sonderpädagogik Stunden durch eine Fachkraft gibt es nicht.
Frau Krüger berichtete über ihre Erfahrungen als Klassenlehrerin an einer Regelgrundschule mit einem blinden Kind in der Klasse. Als Schwerpunkte nannte sie die Anpassung von Unterrichtsmaterialien, Bewusstseinsbildung mit allen SchülerInnen und eine ständige Doppelsteckung im Unterricht. Zentral war der regelmäßige Austausch aller Beteiligten über Arbeitsteilung, Materialien, sozialer Integration und, als größte Herausforderung, das Herstellen erfolgreicher Lernsituationen für alle Kinder mit ihren unterschiedlichen Voraussetzungen.
Als Problembereich wird der Mangel an Fachkräften für Blinden- und Sehbehindertenpädagogik beschrieben, der sich unter anderem negativ auf die Möglichkeit zur Entsendung mobiler Dienste (Ambulanzlehrkräfte) auswirkt. Herr Dobe sowie Herr Dusel wollen sich zukünftig dafür einsetzen, dass Berlin und Brandenburg eine gemeinsame Weiterqualifizierung von Lehrkräften zu Blinden- und SehbehindertenpädagogInnen organisieren.
Die anschließende Podiumsdiskussion war sehr dicht an Themen. So wurde lange über die Situation an freien und privaten Schulen gesprochen. Herr Dusel und Herr Delgado (DBSV) merkten an, dass bei den Verhandlungen um Privatschulregelungen kaum betroffene Personen wie Eltern und Pädagogen beteiligt waren. Diese müssten künftig stärker partizipieren können. Es ist wichtig, Kontrollmechanismen in staatlichen sowie privaten Institutionen zu installieren die sicherstellen, dass Hilfen auch dort ankommen, wo sie benötigt werden und die der Zweckentfremdung von Mitteln und strukturellen Abhängigkeiten entgegenwirken.
Ebenfalls kontrovers diskutiert wurde das Thema „Sonderpädagogische Ressourcenverteilung und Klassenfrequenz“. Jede Schule muss entscheiden, ob sie kleinere Klassen bilden will und damit als Konsequenz mehr Kinder ablehnt. Unberechenbar wird die Lage dadurch, dass sich Eltern mit ihren Kindern in eine Schule "einklagen" können. Eine klare Regelung zur Frequenzabsenkung wurde nicht genannt.
Weitere Bereiche, die kritisiert wurden, waren die Regelungen der Hortbetreuung, die Nutzung und Genehmigung von Fahrdiensten sowie das Thema Schulassistenz und pädagogische Unterrichtshilfen – hier gibt es keine festen Richtlinien zu Stundenumfang und Qualifizierung.
Wir haben uns an diesem Abend dem komplexen Thema der Beschulungsmöglichkeiten genähert, haben Meinungen ausgetauscht und Verbesserungsvorschläge aufgedeckt. Deutlich wurde, dass sich die Haltung gegenüber Menschen mit Behinderung und ihrer Inklusion in die Gesellschaft gesamtgesellschaftlich ändern muss und nicht nur die Schule als alleiniger Akteur herangezogen werden darf.
Es ist klar geworden, dass dieser Veranstaltung weitere folgen müssen, um die Situation nachhaltig für jedes einzelne Kind zu verbessern. Essentiell wird dabei eine regelmäßige Kommunikation und Kooperation aller Beteiligten sein, Ministerien, Verbände, Vertretern der Selbsthilfe, Eltern, Schulen und Sonderpädagogen. Denn, wie Reiner Delgado treffend feststellte, positive Grundhaltungen allein reichen nicht aus. Eine qualitativ hochwertige Bildung für blinde und sehbehinderte Kinder ist nur möglich, wenn dies auch klar in den gesetzlichen Regelungen und Rahmenrichtlinien verankert wird. Dazu zählen die Festschreibung wöchentlicher Ambulanzstunden genauso wie die Schaffung von Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen.
Text: Karina S.
Fotos: Hannes K.